Traueransprache von Pfarrer Jonas Marquardt |
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Ansprache bei der Abschiedsstunde für
Dr. Martin Gerlach in der Stadtkirche zu Kaiserswerth am 19.VII.2008 über Markus 13,31
Wenn ein Prediger tot ist und man dem
Gefühl nicht mehr wehren könnte, nun sei auch die Predigt gestorben:
Wehe! Wenn ein Tröster bei seinem Abschied
den Trost mit ins Grab nähme: Wehe! Wenn einem Denker das Gedachte, wenn
einem Suchenden die Antwort, wenn einem Liebhaber der Wahrheit die
Wahrheit in den Tod folgten: Wehe! Wenn ein Lebenslehrer der Endlichkeit
gehorchend auch der Lehre ein Ende setzte: Wehe! Der Lehrer und Forscher aber, der
Ratgeber und Zeuge, dessen Abschied uns hier zusammenführt, schlägt
uns alles „Wehe!“ und alle Sorge um die Sache aus dem Sinn, mit
jenem Satz, den er uns jetzt zu betrachten gibt (Mk13,31): „Himmel und Erde werden
vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Das ist Jesus. Seine Stimme. Aber wer Ohren hat, zu hören, hört
in der Stimme des Meisters auch Schülerstimmen, hört auch Gerlach.
Nüchtern ist das, was er sich hier für seine Abschiedsfeier gewünscht
hat. Eine Lehre nämlich, die uns zunächst
ganz unumwunden das Zuendegehen, das Verklingen und Verschwinden
vorauszusetzen heißt .... vor allem durch das, was nicht
gesagt wird. Denn was hier nicht einmal ausdrücklich
erwähnt werden muss, ist alles das, was man im Präsens ausdrücken könnte.
Erwägenswert bleibt das Futur: die
Aussicht auf bestimmte Schöpfungen, die einst vergehen sollen und auf
den schöpferischen Logos, der nimmer vergehen wird. Jene Vergänglichkeit unterdessen,
die im Präsens stattfindet, muss nicht eigens unser Thema werden, ist
sie doch buchstäblich unsere Gegenwart: „Ich vergehe, du vergehst,
er/sie/es und wir und ihr und alle vergehen.“ Das ist die erste, gut
israelitisch-biblische Voraussetzung jenes Satzes, den wir mit dem
Leben, Lehren und Sterben Martin Gerlachs vor Augen bedenken. Menschenleben also hat keinen
Ewigkeitswert, sondern webende, wechselnde Orte, Formen und Gestalten:
Es reißt heraus aus der bürgerlich-humanistischen
Welt in die Barbarei des Krieges; es wendet sich in Unfreiheit, aber
vollkommen ungezwungen zur Suche nach Gott; es vertieft sich
intellektuell und erweitert sich geographisch; es lernt große Köpfe
und schlichtes Leben kennen; es erwirbt Erkenntnis und verliert die
Kritiklosigkeit; es forscht und findet und zweifelt und sichtet und knüpft
feste Beziehungsfäden, während es eherne dogmatische Fesseln
sprengt; es dient den Menschen, die von großer Seefahrt in den Hafen
kommt und es fördert jene, die auf große Weisheitsfahrt ins Meer der
Wissenschaften stechen; Orte, Ämter und Umstände wandeln sich .....
eine Folge von Entwicklung und Berufung und Reifung und Leidenschaft
und Pflicht und Ausdauer. Und doch vergeht es: die Phasen und
Prozesse sind lebendig und das Subjekt, das da gewiss seiner
Bestimmung folgt und seiner Überzeugung treu bleibt, hat gleichwohl
Anteil am Wechselspiel alles Lebenden, in dem eines welkt, damit ein
anderes wachse. Nicht zuletzt diese Einsicht und ihre
Konsequenz waren ursächlich für das Charisma des theologischen
Lehrers und Vermittlers Martin Gerlach. So firm und fest er Standpunkte
vertrat und Kenntnisse begründete, so klar blieb doch, dass da nicht
die Unbeweglichkeit, die Statik des Zeit- und Leblosen waltete,
sondern dass Glaube und Erkennen sich hier als dynamische Begabungen
und Passionen des Menschen erwiesen. Das war das Befreiende, Kontroverse
und Anregende, das Wegweisende an seinem theologischen Lehr- und
Lebenswerk: dass es nicht den ausgetretenen Pfaden galt und die überkommenen
Denkgebäude nicht als Denkmäler pflegte. Dabei verkörperten sich in ihm und
seinen Kreisen, in seinen Liebhabereien und seiner Korrespondenz,
allem voran in seiner akademischen Herkunft und vita viele Züge und
Ströme des liberalen universitären Kosmos. Jedoch – vielleicht durch die
Begegnung mit der Schrift, der Sprache und dem Geist Israels bewegt
– jedoch rezipierte und reproduzierte Martin Gerlach auch die
aufgeklärte und kritische Blüte von Philosophie und Theologie nicht
einfach, sondern erfasste wiederum deren Relativität und begrenzten
Kairos. Und so näherte sich seine persönlich
aufrichtige, eifrige und vorurteilslose Durchdringung dessen, was man
wissen soll und glauben kann, der Voraussetzung des großen
Jesus-Wortes von der irdischen und himmlischen Vergänglichkeit –
jener Voraussetzung, dass die Schöpfungen Gottes zwar einst vergehen werden,
.... während unsere Schöpfungen, unsere Leistungen und
Haltungen immer schon vergehende sind: weshalb man sie
ja ein ganzes Leben lang umso ernsthafter reflektieren und revidieren
und reformieren muss. Doch woher nimmt der kritische
Nachdenker und Nachfolger Jesu die geistige Spannkraft, unser vorübergehendes
Weltbild auszumessen und auszuhalten angesichts solcher Finalität? Woher kam der Impuls, der in der Gerlach’schen
geradezu universalen Gelehrsamkeit die lebenslange Konzentration ermöglichte? Das Schweigen, das alle Redner
brauchen, um nicht Vielsager, sondern vielsagend zu werden, war ihm
schon durch seine physische Kriegsverletzung näher auf die Haut gerückt
als anderen. In der Stille aber kann man hart werden – hartnäckig,
weil harthörig. Oder man wird in der Schule der
Stille fein: feinhörig und -sinnig. Und noch etwas kann einem in der
Stille aufgetan werden: der sechste Sinn nicht etwa des Schwerhörigen
oder des Wissenschaftlers allein, sondern der Sinn, der in allen
geweckt wird, die die Buchstaben zu lesen und zu hören lernen, deren
Zusammensetzung man „die Schrift“ nennt. Gewiss: Auch die Bibel wird vergehen,
wenn alles Geschaffene zugleich mit dem Himmel „zusammengerollt wird
wie eine Buchrolle“ (Jes344). Doch ehe sie endgültig mit dieser
Welt, für die sie Botschaft und Stachel waren, aufgehoben werden,
sind die Schrift Israels und das apostolische Zeugnis ganz ohne
Alchemie ein Elixier und Scheidewasser für die geistige Kombinationsfähigkeit,
für die interpretatorische Mündigkeit und für die verantwortliche
Sinnsuche aller, die zu ihnen kommen. Und Martin Gerlach war zur
Schrift gekommen und bei ihr geblieben: seine Interessen mögen sonst
so weitumfassend gewesen sein, wie sie immer mochten, .... er mag zur
Orientalistik und zur Ökonomie, zur Moral und zur Mode
Urteilsfähigkeit besessen haben, er mag akribisch und luzide das
Tagesgeschehen ebenso wie die Traditionen des abendländischen Geistes
verarbeitet haben — zur hebräischen Bibel behielt er doch ein
Sonderverhältnis unter allen Gegenständen seines Studiums. Denn wer einmal mit dem ganzen
Geist, mit der ästhetischen und der philologischen Auffassungsgabe
ans sogenannte „Alte“ Testament herantritt und die Binde von den
Augen streift, die nicht etwa die schöne Schwester Synagoge vorm
Gesicht trägt, sondern das herrische Kirchenweib .... wer einmal also
wirklich hebräisch lernt und liest und liebt, der hat eine erhellend
andere Perspektive gewonnen! Eine alternative und weise Sicht, ein
Korrektiv inmitten der Gewohn- und Gepflogenheiten unseres
eurozentrischen, kausal strukturierten, in psycho-mythologischer Verdrängung
verhafteten Selbstbildes. Schon das hebräische Schriftbild,
das Dr.Gerlach so Vielen erschloss, ist ein ästhetisches
Wunder: wer sich an den herrlichen Buchsbaumornamenten des sogenannten
„Urtextes“ ergötzt, dem wird die gerasterte Akkuratesse der
Herrenhäuser Gärten so inspiriert wie ein Einkaufszettel erscheinen
und die Schnörkelei der Versailler Boskette wird ihn esoterisch
anmuten. Dagegen in den Krönchen und Schwüngen,
den Falten und Rundungen der Bibelschrift zu spazieren: das räumt
auf. Denn es läuft hinaus auf die vielfältigen
Überraschungen, die das nüchterne Menschenbild, die praktische
soziale Empathie, die phantasievolle Poetik und die
entmythologisierende Religionskritik der Bibel bieten. Ausgehend also von einer unermüdeten,
historisch-kritischen zunächst, insgesamt aber vor allem
undogmatischen Lektüre und Relektüre der Schrift, konnte Martin
Gerlach seine gebildeten Assoziationen, seine psychologischen
Deutungen und seine immer wieder genossenen Provokationen entfalten,
die den persönlichen Ton und die Überzeugungslust und –kraft des
Theologen charakterisierten. — Nun aber, am Schluß stellt sich die
Frage umso stärker: Was bleibt, wenn wir vergangen sind
und wenn einst alles, was uns anregte und woran wir wuchsen und
lernten, was wir für wahr hielten und was uns bei der Wahrheit hielt,
ebenso gewesen sein wird? Sollen wir sagen: Wenn der Theologe
auch stirbt, es bleibt doch die Theologie? Einerseits wohl. Es werden bei allen, die mit Martin
Gerlach als Gesprächspartner oder Hörer verbunden waren,
theologische und geistesgeschichtliche Anregungen bleiben. Es werden Höreindrücke und
Aha-Erlebnisse, es werden Fragen und Zitate, es werden Dankbarkeit und
geweckte Neugierde, es werden Reisebilder und Begegnungsfragmente
bleiben. Und so wird etwas von seiner
Theologie, etwas von seinem Geist in der prismatischen Brechungen
vieler Gedächtnisse, im Vergrößerungsglas vieler Erinnerungen und
im verblassenden Kolorit der Vergänglichkeit noch bestehen... Aber das ist es nicht, was er heute,
mit der abermaligen Wahl jenes Satzes, über den er selbst schon beim
Abschied von seiner Frau predigte, vor unser Auge und Ohr stellen
wollte. Dass etwas Predigt den Prediger und
etwas Gedankenreichtum den Denker überlebt, ist nicht das
Wesentliche, vor dem all unser „Weh“ beim Abschied schwindet. Wesentlich ist ein anderes ....
etwas, das womöglich in Martin Gerlachs großem Engagement für
die Telephonseelsorge zum Ausdruck kommt. Dort nämlich, in dieser mitunter flüchtigen
und bisweilen lebensentscheidendenden Situation des
voraussetzungslosen Miteinandersprechens kann das Eigentliche
geschehen: .... dass Gott ins Gespräch kommt. Das lässt sich nicht zwingen und lässt
sich nicht festhalten. Das ist nicht dogmatisch und oft
nicht einmal von einer Gültigkeit, die zitierfähig wäre. Aber gerade darin ist Seelsorge, ....
die ihrerseits nicht ohne Bibeltreue, .... die ihrerseits nicht ohne
Denkfreiheit möglich wäre, der lebendige Rahmen, in dem sich echte
Theologie begeben kann. Denn eben das ist doch buchstäblich
„Theo-Logie“: dass Gott redet,
dass sein Wort uns trifft, das es uns belebt und formt, dass es
uns fordert und zur Mitsprache erweckt. Und diese Theologie –
also nicht das Theologenwerk, sondern das schöpferische Gotteswerk
– das bleibt! Es bleibt, dass wir alle von Gott Angesprochene
sind, ... dass wir’s waren, ... dass wir’s werden sollen!!! Alles, was
an Verkündigung und Trost und Wahrheit und Lehre in menschlicher Form
unter uns geschah und geschieht und geschehen soll, hat dies zum
Horizont: Der Gott,
den wir nicht herbei- und nicht wegreden können; der Gott, dessen
Wahrheit kein Katechismus zu definieren und dessen Nähe kein
Atheismus auszuschließen vermöchte; der Gott, dessen Gedanken
konkretere Manifestationen sind als aller Materialismus und dessen
Herz vielleicht eher in schlichtester Körpersprache als mittels aller
Philosophie vergegenwärtigt wird: der beendet das Gespräch mit uns
nicht. Er nennt und
ruft ewig. Spricht von
uns und zu uns. Ist das
Wort, das uns erschließt. Das Wort,
das bleibt. Amen.
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