Wer ist Jesus aus Nazareth?

 
  Seit Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) hat es immer wieder imponierende Versuche gegeben, diese Frage zu beantworten. Die heutigen Versuche laufen unter der Bezeichnung: die 3. Frage, also der 3. Anlauf. Damit ist zugleich gesagt, dass die Zeit, in der man meinte, man könne und dürfe die Frage nicht beantworten, vorbei ist. Es war die Vorstellung Albert Schweitzers und Rudolf Bultmanns.  
     
  Was bringt nun der 3. Versuch? Die Vorstellung, Jesus sei ein Prophet gewesen und habe das Ende der Welt verkündet, ist weithin verschwunden. Der Ausgangspunkt ist heute die Erkenntnis, dass in den Religionen, der Anthropolo-gie und der Psychologie der Religionen vier Typen von religiösen Persönlichkeiten bekannt sind, also auch in der jüdischen Tradition: der geisterfüllte Charismatiker, der Lehrer der Weisheit, der Prophet im Sinne der Pro-pheten des Alten Testamen-tes und der Gründer einer Erneuerungsbewegung. Religionsgeschichtliches Wissen wird also wichtig. Von hierher erscheinen die Evangelien in einem neuen Licht. Die uns vertrauten christlichen Bezeichnungen Jesu sind spätere Traditions-bildungen, stammen also nicht von Jesus selbst. Dazu gehört die Deutung des Todes Jesu wie die Erwartung seiner Wiederkehr, oder auch die Formulierungen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Es ist nur ein Glaube 2. Hand. Wir wissen durch die Tradition mehr von Jesus, als er von sich wusste. Erstaunlich und völlig unverständlich ist ja auch, dass im Apostolischen Bekenntnis das Leben Jesu selbst keine Rolle spielt, also die Zeit zwischen Geburt und Tod. Aber das Christentum hat zum Inhalt den Glauben Jesu, nicht den Glauben an Jesu. Da wir heute gute Kenntnisse über Jesu soziale Welt haben, wird deutlich, dass er seine Sendung als einen Beitrag zur Gestaltung dieser Welt verstand. Die Krise, von der das Neue Testament redet, wird verstanden als eine Krise dieser Welt. Aber diese Krise ist nicht das Ende der Welt.  
     
  Was bedeutet nun für mich der 3. Versuch? Jesus eröffnet die Möglichkeit, Erfahrungen mit Gott zu machen. So muss die Auf-erstehung unterschieden werden von der Wieder-belebung des Körpers. Der Auferstandene ist der, der mir Erfahrungen eröffnet. Machen wir uns beispielhaft die Erfahrung klar an der Rolle der Weisheitslehren. Weisheit beinhaltet Verhal-tensformeln, die jeder kennt und übernimmt. Sie vermitteln Sicherheit, Identität und Status. Danach ist die Wirklichkeit organisiert nach dem Prinzip von Belohnung und Bestrafung. Wer Gutes tut, erfährt Gutes, wer Schlechtes tut, erfährt Schlechtes. Der Mensch erntet, was er sät. Diese Grundannahme unterwandert Jesus: Gott ernährt die Vögel, die nicht arbeiten; er lässt die Sonne aufgehen über Gute und Böse; Gott ist der Vater, der ein Fest veranstaltet, als der verlorene Sohn heimkehrt; sein Arbeitgeber zahlt den vollen Lohn auch denen, die nur eine Stunde gearbeitet haben. So war Jesus überzeugt, dass unsere Wirklichkeit unwiderruflich in Gott geborgen ist
trotz gegenteiliger Erfahrung. Er bietet eine Einladung, gewohnte Vorstellungen neu und anders zu sehen. In dieser Erfahrung geht es nicht um Selbsterhaltung, sondern um Vertrauen. Diese Erfahrung bedeutet das Ende aller Selbstrechtfertigung.
 
     
  Die eingangs erwähnten vier Typen der Religionen doku-mentieren alle solch eine Gotteserfahrungsmöglichkeit. Jesus repräsentiert alle diese Typen. Durch den Glauben Jesu wird Gott zu einer erfahrbaren Realität, wenn ich glaube wie Jesus.  
     
  So wird als Ergebnis der neuen Frage nach dem Jesus von Nazareth diese Gestalt wieder bedeutsam, wenn auch anders, als wir es gewöhnt sind.  
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  Martin Gerlach  
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