Juden und Christen

 
  Es gab viele Diskussionen zwischen den lutherischen und der katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre. Darunter wird verstanden, dass der Mensch vor Gott einen Wert hat unabhängig von seiner Leistung und seiner Fehl-leistung. Abgeleitet wird diese These aus den Briefen des Apostel Paulus.  
     
  Die Paulusforschung, besonders im englischsprachigen Bereich, steht heute vor einem Paradigmawechsel. Es geht nach Paulus gar nicht um das Heil des Einzelnen, sondern um die Frage nach dem Heil des Nichtjuden, der sogenannten Heiden. Die am Individuum orientierte bisherige Vorstellung wird durch eine ethnisch-völkische Sicht relativiert. Paulus geht es darum, die Heiden in die Heilsgeschichte des Volkes Gottes zu integrieren. Dann ändert sich aber noch etwas: das Judentum wird neu verstanden. Es kann nicht mehr als werkgerecht und legalistisch verstanden werden. Nach bisherigem Verständnis hat Paulus sich gegen solch ein Judentum gewandt, es war und ist aber ein hartnäckiges Vorurteil.  
     
  Grundaussage der neuen Sicht ist, dass Paulus den Einschluss der Heiden in Israels Heil will. Das Israel gegebene Heilsver-sprechen gilt allen. Die Aussage über die Rechtfertigung ist dann eine verteidigende Aussage. Gottes Heil besteht immer nur in der Erwählung. So werden Juden und Heiden gerettet. Die Kritik des Paulus am Judentum ist die Tatsache allein, dass sie keine Christen sind.  
     
  Was bedeutet das nun für die Thora, für das Gesetz? Es gab dem Volk die Identität bis in die Gegenwart. Dies gilt für das Außenverhältnis und besonders für die Bin-nenstruktur als Stärkung der Gruppenidentität.  
     
  Wenn Paulus doch an einigen Stellen ein anderes Verständnis artikuliert, so liegt das am Verhalten von Judaisten, die den Heiden doch die Reinheits- und Speisevorschriften aufdrängen wollen. Hier vermutet Paulus eine Gesetzlichkeit.  
     
  Was ergibt sich aus diesem ethnischen Verständnis der Rechtfertigung? Christen und Juden sind arbeitsteilig auf dem Wege zu demselben Ziel. Dann sind Antijudaismus und Antisemitismus unangebrachte Verhaltensmuster.  
     
  Mich beeindruckt immer wieder, was der evangelische Theologe H.-J. Schoeps am Ende seines Paulus-Buches aus dem Jahr 1959 sagt: "Der Messianismus Israels zielt auf das kommende, die Eschatologie der Weltvölkerkirche auf die Wiederkehr des Gekommenen. Beide eint die gemeinsame Erwartung, dass das entscheidende Ereignis erst noch kommen wird - als Ziel der Wege Gottes, die er in Israel und in der Kirche mit der Menschheit geht. Die Kirche hat von ihrem Heiland kein Bildnis aufbewahrt. Wenn Jesus morgen wiederkehren würde, würde ihn von Angesicht kein Christ erkennen können. Aber es könnte wohl sein, dass der, der am Ende der Tage kommt, der die Erwartung Synagoge wie der Kirche ist, dasselbe Antlitz trägt."  
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(Der Autor ist evangelischer Theologe; er leitete 20 Jahre lang die Evangelische Stadtakademie Düsseldorf)